Den Klang Europas erhorchen – Singen mit Flüchtlingen Erfahrungsbericht eines LMN-Alumni-Projektes von Markus Sterk

Das extrem starke Crescendo der Flüchtlingsströme und die ungebremste Immigration Asylsuchender nach
Deutschland im ersten Halbjahr 2015 hat die Idee reifen lassen, die materielle Hilfsbereitschaft in den Unterkünften
durch musikalische Angebote zu ergänzen. Ganz im Sinne von Yehudi Menuhin wurde die Initiative gestartet,
durch gemeinsames Singen, einen Beitrag zur Verbesserung der Umstände zu leisten, um Trost und Freude zu
vermitteln.
Rahmenbedingungen
Beheimatet ist das Projekt „Singen mit Flüchtlingen“ im Städtischen Landschulheim Seeheim (Münsing), am
Ostufer des Starnberger Sees gelegen. Es dient etwa 50 unbegleiteten minderjährigen Jugendlichen als Unterkunft.
Die ersten „Proben“ begannen Ende Juli 2015 in einem chaotischen Umfeld, das von der Heimleitung und
ehrenamtlichen Helfern im Laufe der Zeit immer mehr beherrscht und strukturiert wurde.
Die Atmosphäre im Landschulheim war sehr variabel: eine Woche herrschte aufgeregte Stimmung, da sich kurz
zuvor Handgreiflichkeiten ereignet hatten, eine andere Woche – vollkommen ungewohnt – absolute Ruhe auf dem
gesamten Gelände. Letztendlich hat sich ein kleiner, aber konstanter Kern von vier bis sechs Flüchtlingen
gefunden, die regelmäßig an den Singstunden teilnahmen. Nicht zuletzt dadurch motiviert, dass einige Betreuer und
Sicherheitskräfte ebenfalls in den Chor einstimmten, konnten die Flüchtlingen erfahren, wie Europa klingt.
Singstunde – So klingt Europa
Am Beginn der wöchentlichen Singstunden standen einfache Lockerungs- und Einsingübungen, um die
Jugendlichen – zumeist Afghanen, Syrer und Eriträer – auf das Singen einzustellen. Mit den Bewegungsübungen
konnte eine Gruppeneinheit geschaffen werden, da Bewegung leicht und verständlich ist. Die Einsingübungen
reichten von Rufen, Seufzen und Summen bis hin zu einzelnen Artikulationsübungen, wie sie manche
Sprecherzieher praktizieren.
In der Singphase wurden einfachste Volkslieder, wie z.B. „Bruder Jakob“, „Guten Morgen“ oder „Der Mond ist
aufgegangen“, eingeübt. Einmal wurde die Melodie nur auf Silben gesungen, einmal der Text gesprochen. Da die
Jugendlichen über keine bzw. nur sehr rudimentäre Deutschkenntnisse verfügten, herrschte als kommunikatives
Grundprinzip Vormachen – Nachmachen, flankiert von Gesten und Körpersprache, ähnlich einer einfachen Art des
Dirigierens.
Sehr hilfreich war das vom Carus-Verlag angestoßene „Liederprojekt“, das zumindest die potentielle Möglichkeit
eröffnete, die Lieder über das Mobiltelefon nachhören zu können und die Texte zu lesen.
Ergänzt wurde das Programm durch das Vorsingen von Liedern aus der Heimat durch die Jugendlichen selbst.
Beispielsweise sang ein Junge aus Afghanistan mit kräftiger, schöner Stimme ein Volkslied aus seiner Heimat und
wurde dafür mit kräftigem Applaus belohnt. Dabei zeigte sich, wie anders jene Musik klingt: ein System mit
gänzlich anderen Intervallstrukturen, das der individuellen Entfaltung (Improvisation) mehr Raum einräumt, anstatt
in einem harmonischen Rahmen gemeinsam voranzuschreiten. Mit der Unterstützung der Ehrenamtlichen gelang es
dann sogar, „Bruder Jakob“ im Kanon zu singen – zwar eine einfache mehrstimmige Form, für die Zuwanderer
dennoch ungewohnt.
Positive Effekte
Besonders positiv war, dass die anwesenden Sänger mit Interesse und Aufmerksamkeit an der Singstunde
teilnahmen. Wesentlicher und spürbarer Effekt der Einsingübungen war die Herstellung von Ruhe und
Konzentration: Durch das mehrmalige Wiederholen der einfachen Liedmelodien, das immer wieder neue Sprechen
des Textes und das bewusste Zuhören legte sich Unruhe und Aufgeregtheit zugunsten einer Fokussierung auf das
aufnehmende Hören. Die Verbesserungen in der Artikulation der deutschen Sprache waren merklich, wenngleich
die im gegebenen Rahmen erzielbaren Fortschritte nur klein sind und auch nur flankierend zum stattfindenen
Schulunterricht der Flüchtlinge zu sehen sind. Der Weg zu einem „Flüchtlingschor“, dessen harmonisches
mehrstimmiges Singen die Einheit in der Vielfalt ausmacht, ist lang.